Weltweit

Vernachlässigung sichtbar machen

Überforderte oder abwesende Eltern und vernachlässigte Kinder sind allgegenwärtig und doch zu oft unsichtbar. SOS-Kinderdorf geht das vielseitige Problem präventiv an und unterstützt zudem Betroffene, sich aus dieser Lage zu befreien.

Alltag oder Krise – Vernachlässigung tritt überall auf. Mädchen in Syrien. © Bjorn-Owe Holmberg

Khadidja passt auf ihren kleinen Bruder Ibrahim auf.           © Victor Komondi

Khadidja, Burkina Faso

Am Rand eines Hügels steht Khadidja, ihren kleinen Bruder Ibrahim im Arm, umgeben von fünf Zelten mit dem UNHCR-Logo (dem Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge). «Ich erinnere mich an alles», sagt sie mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck. Die Erinnerungen an schlimme Ereignisse, die niemand, und schon gar nicht Kinder und Jugendliche, durchmachen sollten, nehmen sie mit. «Ich wurde nachts von meiner Mama aus dem Schlaf gerissen. Am Tag zuvor hatten bewaffnete Männer alle Bewohner des Nachbardorfs getötet. Meine Eltern hatten Angst, dass wir die nächsten sein würden und beschlossen, unser Zuhause, unser Dorf zu verlassen.»

Von heute auf morgen liess die Familie alles stehen und liegen. «Kinder und Frauen wurden auf Eselskarren abtransportiert. Ich weiss noch, dass ich stundenlang unterwegs war, immer mit der Angst im Nacken, dass uns doch noch etwas passiert.» Die wiederholten Angriffe durch bewaffnete Gruppen in der Region Zentrum-Nord in Burkina Faso verschärfen eine ohnehin schon schwierige Lage: Die Bedrohung kommt zu chronischer Ernährungsunsicherheit und abwechselnd extremen Dürren und Überschwemmungen sowie der Corona-Pandemie hinzu. 

Für Khadidjas Vater Alassane kommt eine Rückkehr nicht infrage. «Es ist einfach zu unsicher. Wir haben keine andere Wahl, als uns anzupassen. Ich bin Bauer, muss aber eine andere Arbeit finden, um meine Familie zu versorgen», sagt er, umgeben von Kindern. Was ihn in der aktuellen Lage freut, sind die kinderfreundlichen Räume, die im Flüchtlingslager von SOS-Kinderdorf und anderen humanitären Organisationen eingerichtet wurden. «Jeden Morgen können sie es kaum erwarten, wieder dorthin zu gehen. Ihr Lächeln gibt uns Grund zur Hoffnung.»

SOS-Kinderdorf: Präventive Massnahmen gegen Vernachlässigung

• Aufklärung von Kindern über ihre Rechte und Partizipation
• Erziehungskompetenzen im Bereich Kommunikation, Gesundheit und Rechte fördern
• Kindern ohne Fürsorge im SOS-Kinderdorf ein neues Zuhause bieten
• Zugang zu medizinischer Versorgung sichern
• Unabhängigkeit von Familien durch Einkommensförderung stärken

Paul, Peru

Paul (16) lebt mit seiner Mutter Marcela (35) und seinen drei Geschwistern Inez (13), Lucy (9) und Gabo (3) in Lima. Jahrelang mussten die Kinder erleben, wie ihr Vater Marcela demütigte und schlug. SOS-Kinderdorf Peru unterstützte Marcela dabei, eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten und vermittelte ihr eine Unterkunft. Doch das traumatische Erlebnis hinterliess zu tiefe Wunden, als dass die Familie diese aus eigener Kraft hätte heilen können. «Paul litt unter Depressionen, die Mädchen hatten Angst», erzählt Marcela, die selbst nicht wusste, wie sie ihren Kindern helfen sollte. 

Mehr als 70 Prozent der Kinder in Peru haben gemäss nationalen Erhebungen bereits Gewalt in ihrem Zuhause erfahren. Leider wird trotz alarmierend hohen Zahlen das mentale und emotionale Trauma, das häusliche Gewalt verursacht, oft übersehen. In ganz Lateinamerika unterstützt SOS-Kinderdorf die psychische Gesundheit von Kindern in Familien: etwa durch soziale Tanz- und Zirkuskurse in Brasilien oder mit Workshops in Nicaragua und Peru, die Männern verantwortungsvolle Vaterschaft vermitteln. Die Psychologin und Kinderschutzspezialistin bei SOS-Kinderdorf, Stephany Orihuela, betont das geringe Selbstbewusstsein von Kindern, die Gewalt erlebt haben: «Bei den Kindern bestehen Bedürfnisse nach Zuneigung und Zugehörigkeit, danach, gehört und geliebt zu werden. Ohne emotionales Wohlbefinden wiederherzustellen, ist es unmöglich, ihr Verhalten positiv zu beeinflussen.» 

Dank psychosozialer Beratung hat Paul seine Depression schliesslich überwunden. Er beendet dieses Jahr die Schule und möchte Arzt werden, um anderen zu helfen. Lucy ist voller Energie und der kleine Gabo hat seine Sprachfähigkeiten durch die Frühförderung im SOS-Sozialzentrum schnell verbessert. Inez ist glücklich, dass sie ein eigenes Zuhause hat und sich sicher fühlt: «Meine Mutter ist mein Vorbild für Mut und Liebe. Ich möchte Krankenschwester werden wie sie», sagt sie voller Stolz.