Aus unserem Fokusland Nicaragua

«Die Rückkehr zur Normalität dauert»

Häusliche Gewalt gegenüber Kindern und Frauen stellt in Nicaragua seit Jahrzehnten ein enormes Problem dar. Insbesondere emotionale und sexuelle Gewalt an Frauen und Mädchen sind weitverbreitet, sozial anerkannt und rechtlich auf Regierungsebene nicht geahndet. SOS-Kinderdorf leistet in Familienstärkungsprogrammen präventive und begleitende Arbeit, um die gesellschaftliche Lage für Mädchen und Frauen zu verbessern und Opfer sexueller Gewalt bei der Traumaverarbeitung zu unterstützen.

Bild: In Workshops wie hier in Matagalpa werden minderjährige Schwangere und Mütter bei der Verarbeitung ihres Traumas und der präventiven Arbeit mit ihren Familien unterstützt.

Frauen und Mädchen befinden sich in dem traditionell seit Jahrhunderten stark durch Machismo geprägten Nicaragua in einer prekären Lage. «Im Zuge der Corona-Pandemie haben Formen häuslicher Gewalt stark zugenommen, fast 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen erleben sexuelle Gewalt, meist innerhalb der eigenen Familie», erklärt Anouk Zulauf, Programmverantwortliche für Nicaragua von SOS-Kinderdorf Schweiz. «Zudem hat die Regierung mittlerweile mehr als 3000 NGOs geschlossen und des Landes verwiesen, um Einmischung und Kontrolle durch die Zivilgesellschaft zu umgehen. Das heisst, präventive sowie begleitende Angebote für schutzsuchende Kinder und Familien wurden auf ein Minimum reduziert. Das ist eine gesellschaftliche Tragödie. Im Land ist ein Viertel der 15- bis 18-Jährigen bereits Mutter. Zudem gilt selbst in Extremfällen ein Abtreibungsverbot, wie zum Beispiel bei Vergewaltigung auch bei Minderjährigen durch ein Familienmitglied. Lebenslange Traumata, die über Generationen weitergegeben werden, werden durch den Staat billigend in Kauf genommen.» 

Eine der Betroffenen ist die heute 14-jährige Blanca aus Matagalpa. Mit nur elf Jahren wurde das Mädchen von ihrem Stiefvater vergewaltigt und gebar neun Monate später, selbst noch ein Kind, ihr Baby. Im Anschluss daran musste sie im Prozess gegen ihren Stiefvater aussagen, eine ausserordentlich belastende Erfahrung, die Blanca erneut traumatisierte. Ihr Peiniger wurde verurteilt und sitzt bis heute im Gefängnis. Mit ihrem Leid und der neuen Aufgabe als Mutter blieb Blanca jedoch lange allein. Die Schule brach sie aus Scham ab, zu ihrem leiblichen Vater besteht kein Kontakt, und auch ihre Mutter hatte sie bereits vor der Geburt des Babys verlassen, da sie für Schulden des inhaftierten Stiefvaters von Blanca mittels Arbeit in Costa Rica aufkommen musste.Blancas Schicksal verursacht Gefühle von Wut und Hilflosigkeit. Dass sie kein Einzelfall ist, erschreckt umso mehr. Ihr Schicksal berührt aber auch, weil es Blanca heute bereits deutlich besser geht. Sie ist erst seit vier Monaten Teil des Programms von SOS-Kinderdorf in Matagalpa, hat jedoch schon eindrückliche Fortschritte erzielt und neuen Lebensmut gefasst. War sie anfangs sehr introvertiert, lacht sie wieder mehr und ist zurück in der Schule. «Zudem kann sie sich nun wie die meisten Gleichaltrigen ausgiebig auf ihren fünfzehnten Geburtstag, ‹los
Quinzes›, ein im lateinamerikanischen Raum gross gefeiertes Fest, freuen
», erzählt Zulauf. 

In monatlichen Treffen mit anderen minderjährigen Schwangeren und Müttern erhält sie Unterstützung und lernt durch professionelle Beratung neue Verhaltensmuster für die fordernde Aufgabe als Mutter. Zudem wird sie intensiv von einer Sozialarbeiterin begleitet und arbeitet ihre Erfahrungen in der Psychotherapie auf. «Am Anfang dachte ich, was wollen die, und wer sind die? Heute freue ich mich bereits am Ende eines Workshops schon wieder auf das nächste Treffen, weil es alles erträglicher macht und wir Mädchen zusammenhalten.», erzählt Blanca. Zulauf hat in Nicaragua mit zahlreichen minderjährigen Schwangeren und Müttern gesprochen, viele von ihnen Opfer sexueller Gewalt: «Es dauert bis zu sechs Jahren, bis diese Mädchen gemeinsam mit ihrem Umfeld wieder fähig sind, eine gewisse Normalität mit Hoffnungen für die Zukunft zu leben.» SOS-Kinderdorf arbeitet seit 2017 mit akut traumatisierten Kindern und Jugendlichen zusammen. Um Betroffene langfristig zu unterstützen und zu einem gesellschaftlichen Wandel beizutragen, setzt das Kinderhilfswerk auf drei Aktivitäten. Gemeinsam mit Fachpersonal wird ein fundierter, psychosozialer Präventions- und Betreuungsansatz erarbeitet, der landesweit zum Einsatz kommen soll. Darüber hinaus gilt es, Mädchenhäuser für spezielle Betreuungsbedürfnisse zu etablieren. Um den Mädchen eine nachhaltige Chance auf eine selbstbestimmte Zukunft zu ermöglichen, ist die Eröffnung von Kindertagesstätten unverzichtbar. Nur so können sie weiter die Schule besuchen und sich danach ein Einkommen sichern, ohne dabei ihre Kinder vernachlässigen zu müssen. 

Bild: Bei einer gemeinsamen Übung von Müttern und ihren Kindern im Workshop stehen Vertrauensaufbau und Fürsorge im Vordergrund.

Spenden, Events und News aus der SOS-Kinderdorf-Welt