Unser Fokusland Äthiopien

Heilung für Körper und Geist

Seit November 2020 herrschte in der Tigray-Region Äthiopiens zwei Jahre lang ein grausamer Bürgerkrieg. Auch die siebenjährige Hannah musste Schreckliches erleben. SOS-Kinderdorf unterstützt das tapfere Mädchen, ihre Erfahrungen zu verarbeiten.

Bilder: Hannah mit einer ihrer neuen Schwestern (oben) und ihrer SOS-Mama (unten rechts). © Jakob Fuhr

Mehr als zwei Jahre – mit kurzen Unterbrechungen – hatte die äthiopische Bevölkerung unter dem Bürgerkrieg zu leiden. Grausamkeit, Verlust und Angst gehörten dabei unweigerlich zum Alltag. Traumatisches hat auch Hannah erlebt, ein siebenjähriges Mädchen aus Mekelle, der Hauptstadt der Tigray-Region. Die ersten Tage und Wochen nach Ausbruch des Konflikts verbrachte Hannah damit, sich vor schwerem Beschuss zu schützen und mit ihren Eltern in Richtung Süden zu fliehen. Auf der Flucht verlor sie nicht nur ihre Mutter, sondern musste auch mitansehen, wie Fremde ihren Vater ermordeten und wurde selbst verletzt. Ohne zu wissen, wer sie gerettet hatte, erwachte Hannah später in einem Krankenhaus in Bahir Dar, 600 Kilometer von Mekele entfernt. Nach der Behandlung ihrer körperlichen Verletzungen und in Absprache mit dem regionalen Büro für Frauen, Kinder und soziale Angelegenheiten nahm SOS-Kinderdorf Hannah auf.

Dort wird sie seitdem psychologisch betreut. Teresa Ngigi, Beraterin für psychische Gesundheit und psychosoziale Betreuung bei SOS-Kinderdorf, erklärt, Hannah stehe immer noch unter Schock. Ihre Reaktion sei typisch für Kinder, die in Kriegen aufgewachsen sind. «Die Schockstarre ist die einzige Möglichkeit für das Gehirn, das Kind zu schützen, denn das Trauma ist zu gross», sagt Teresa. «Wenn Kinder nicht bei ihrer Heilung unterstützt werden, entwickeln sie ein Bild vom Leben, das auf ihren eigenen Erfahrungen beruht, und versuchen, sich ständig zu schützen. Das bedeutet, dass alle anderen Entwicklungsfähigkeiten auf Eis gelegt werden, weil es sich um einen Notfall handelt: am Leben zu bleiben. Wenn alle anderen Fähigkeiten unterbrochen sind, kann das Kind nicht wachsen oder lernen, hat Angst vor Menschen und vertraut nicht mehr.» Neben der psychologischen Beratung hat Hannah mit ihrer SOS-Mama Kassech eine feste Bezugsperson gewonnen. «Als Hannah zu meiner Familie kam, konnte sie überhaupt nicht sprechen, und ihre Augen schienen um Gnade zu bitten», erzählt Kassech. «Ich habe Hannah eng begleitet und ihr oft geholfen, zur Ruhe zu kommen, wenn sie sich an das Geschehene erinnerte. Manchmal wachte sie schwer und schnell atmend auf und hatte Angst, dass sie sterben wird. Auch laute Geräusche und Menschen, die sie noch nie gesehen hat, machten Hannah grosse Angst. Sie brauchte jeden Tag Zuspruch und die Gewissheit, dass sie sicher ist, um das Trauma zu verarbeiten.» 

Hannah geht gerne in den nahegelegenen Kindergarten, um mit den Kindern Fussball oder Verstecken zu spielen. «Ich sehe ein Lächeln und ein Funkeln in Hannahs Augen, wenn sie spielt», sagt Kassech. «Je sicherer sie sich fühlt, desto mehr wird sie ihre Ängste überwinden und neue Energie sammeln, um zu lernen und aufzublühen. Obwohl sie immer noch nicht viel sagt, schläft sie jetzt besser und hat keine Albträume mehr.» Viele Kinder und Familien in der Tigray-Region haben ähnliche Geschichten wie die von Hannah zu erzählen, und viel zu oft mit einem traurigen Ende. Für Erika Dittli, Leiterin Programme bei SOS-Kinderdorf, ist klar: «Wir wissen aus Erfahrung, dass die Heilung der seelischen Wunden sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Um die seelischen Wunden zu heilen, braucht es psychosoziale Unterstützung – für die Erwachsenen wie auch die Kinder.» Der erste Schritt für diese Heilung, die Unterzeichnung eines Friedensabkommens durch die Konfliktparteien, wurde im November 2022 vollzogen. Der Wiederaufbau der Region und die Verarbeitung des Erlebten werden jedoch noch viel Zeit in Anspruch nehmen.

SOS-Kinderdorf: Programmarbeit
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