Ukraine

«C’est la vie»

Ende März respektive Ende Mai brachte der Verein tipiti mit Unterstützung von SOS-Kinderdorf Schweiz 59 Pflegekinder und deren Pflegefamilien mit 12 eigenen Kindern in Rehetobel und Gilly unter. Einige Wochen und Monate danach berühren uns besonders der zielstrebige Blick in die Zukunft und die bewundernswerte Zuversicht der geflüchteten Kinder und Erwachsenen.

Bild: Ein Teil der Pflegekinder und -familien erholen sich im Garten ihrer Unterkunft in Gilly.

«Papa! Papa! Papa! Warum bist du wach? Papa! Papa!» Lachend erzählt Olga, 46, dass die letzte Nacht für sie und ihren Mann Volodymyr, 49, recht kurz war, weil eines ihrer Pflegekinder selbst nicht schlafen konnte. Ob es am Vollmond lag? Olga und Volodymyr sind mit ihren zehn Pflegekindern gemeinsam mit sechs weiteren Pflegefamilien Ende März in Rehetobel in der Ostschweiz angekommen. Der Kontakt kam zustande, weil die Pflegefamilie schon vor Kriegsausbruch für ein Projekt mit SOS-Kinderdorf Ukraine zusammengearbeitet hatte. Im Juni, zum Zeitpunkt unseres Besuchs, ist die zwölfköpfige Pflegefamilie aus Mariupol seit drei Monaten in ihrem neuen Zuhause. So etwas wie Alltag ist bereits eingekehrt. Die Kinder gehen tagsüber zur Schule, um Deutsch zu lernen, einige der älteren Jugendlichen haben bereits Schnupper-Praktika in der Gemeinde gefunden, und die Eltern regeln organisatorische Dinge rund um Schule und Gesundheit, besuchen einen Sprachkurs und helfen im Haushalt mit. Zwischen den täglichen Pflichten und vielen Behördengängen geniessen sie bei Spaziergängen die Schweizer Natur. Die ruhige, idyllische Bergwelt ist ein fast surrealer Kontrast zu dem, was sie kürzlich noch in ihrer Heimat erlebt haben. Olga berichtet, dass sie sich bereits sehr wohlfühlen, aber innerlich immer noch sehr zerrissen sind. Daran hat sich seit ihrer Ankunft in Rehetobel nach der anstrengenden, sieben Tage dauernden Flucht nichts geändert. Kurz nach Ausbruch des Krieges galten ihre Gedanken ausschliesslich dem Überleben der Kinder und den grundlegenden Dingen: Kleidung, Nahrung, Schutz finden. Auch wenn ihr Blick nun in die Zukunft gerichtet ist, prägen die Kriegserfahrungen die Gedankenwelt aller Familienmitglieder. «Je nach Alter reden wir ganz unterschiedlich mit den Kindern. Sie fangen auch erst jetzt an, überhaupt Fragen zu stellen», erklärt Olga.

Olga, hier mit einem ihrer zehn Pflegekinder, ist erleichtert, mit ihrer Familie in Sicherheit zu sein.

Umso mehr gilt es, sowohl für die Pflegefamilien in Rehetobel als auch in Gilly, zur Ruhe zu kommen und sich die Zeit zu nehmen, das Erlebte zu verarbeiten und zugleich neue Kraft und Hoffnung für die Zukunft zu schöpfen. Für die älteren Jugendlichen in Rehetobel gab es schon wenige Wochen nach der Ankunft eine gute Nachricht. Sie können berufliche Erfahrungen in verschiedenen Betrieben in der Nähe sammeln und, bei guter Leistung, anschliessend eventuell eine Lehre absolvieren. Für alle anderen Kinder gilt natürlich: Bildung kommt vor Geldverdienst. Nach den Sommerferien sollen sie so schnell wie möglich in den regulären Schulbetrieb integriert werden. Der erste soziale Schritt dahin ist schon getan: Viele von ihnen haben sich bereits mit anderen Kindern aus dem Dorf angefreundet und treffen sich nachmittags zum Spielen. Um kurz vor drei ist Schulschluss, unser Gespräch mit Olga wird unterbrochen von den ankommenden Kindern und Jugendlichen. Innerhalb weniger Minuten füllt sich der grosse Aufenthaltsraum mit Leben, es herrscht ein einziges Toben, Rufen und Lachen: eben Normalität unter nicht normalen Umständen. «C’est la vie», kommentiert Volodymyr verhalten lächelnd das Geschehen. Einige der Kinder holen sich in der Küche Essen, andere spielen draussen Ball, wieder andere setzen sich hin und malen. «Wir sind voller Hoffnung auf eine gute Zukunft und einfach dankbar, dass unsere Familie lebt und gesund ist», schliesst Olga ab, bevor sie sich zu zwei ihrer Pflegesöhne setzt und ihnen beim Malen zuschaut. Auch in den kommenden Monaten werden der Verein tipiti und SOS-Kinderdorf Schweiz die geflüchteten Familien in Gilly und Rehetobel begleiten und unterstützen: je nach Lage bei der langfristigen Integration in der Schweiz oder bei der sicheren Rückkehr in ihre Heimat.