«Kinder möchten entdecken und lernen»

Was bedeutet frühkindliche Bildung eigentlich?
Der Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (OR FBBE) der Schweiz beschreibt, dass frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung eng miteinander verzahnt sind. «Bildung» meint in diesem Kontext die Aneignungstätigkeit, also das Spiel des Kindes. «Betreuung» wird als soziale Unterstützung, Pflege, Ernährung, emotionale Zuwendung und Schutz verstanden. «Erziehung» heisst, eine anregende Bildungsumwelt (Räume, Material, Zeit) im Alltag zu schaffen. Das Konzept «FBBE» dient dem gesunden Aufwachsen und umfasst die Altersgruppe von der Geburt bis zur Einschulung.
Gibt es Erkenntnisse, wie sich frühkindliche Bildung auf das spätere Leben auswirkt?
Gemäss Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie, ist es entscheidend, dass Kinder Sicherheit und Geborgenheit erleben. Das Kind macht sich ein Bild von der Welt: Wer tröstet mich und hilft mir, Ängste zu überwinden? Frühkindliche Bildungs- sind zugleich Beziehungsprozesse und Voraussetzung dafür, dass ein Kind von Geburt an Neues ausprobiert und diese Erfahrungen im Gedächtnis verankert. Alles, was das Kind wahrnimmt, erzeugt ein Erregungsbild. Wiederholen sich diese Erfahrungen übereinstimmend, folgt die gewohnte Reaktion. Muster verstärken sich, der Lerneffekt bleibt aus. Gibt es keine Gemeinsamkeit, passiert nichts. Passt das aus dem Gedächtnis abgerufene Bild teilweise zum neuen Bild, wird das bestehende Bild so lange umgestaltet, bis das neue passend eingefügt werden kann. Das Kind hat etwas hinzugelernt. Neu erworbenes Wissen muss auch emotional in Beziehung zu bisherigen Erfahrungen gesetzt werden können. Rücksicht und Achtsamkeit spielen eine wesentliche Rolle beim Lernen, weil in diesem Rahmen eine viel profundere Erfahrung möglich ist.
Haben wir in der Schweiz diesbezüglich Nachholbedarf?
Ja, gesellschaftlich besteht Aufklärungsbedarf über die Bedeutung von FBBE und darüber, welche Chancen es birgt. Oft ist es schwer, die Lebenswelt von Familien so zu gestalten, dass das Kind aufmerksam begleitet und ermutigt wird und mit anderen Kindern entdecken und lernen kann. Die heutigen Kinder sind die Fachkräfte von morgen. Frühkindliche Bildung hat mit der wirtschaftlichen Entwicklung mehr zu tun als vielen bewusst und lieb ist.                                          
Was ist sinnvoll, um Kinder früh zu fördern? Vorlesen, musizieren – oder ist das ganz unterschiedlich?
Frühkindliche Förderung ist eine Prioritäten- und Ressourcenfrage. Ohne verlässliche Bindung ist Bildung unmöglich. Die Erfüllung der Grundbedürfnisse und die Stimmung sind dafür elementar. Lernprozesse müssen an konkrete alltägliche Situationen gebunden sein. Ein Beispiel: Das Kind erlebt, wie die Oma aus dem Buch vorliest. Das Kind will dann eventuell selbst die Buchseiten betrachten (Wortbilder) und fühlen (Haptik und Feinmotorik). Wir Erwachsene sollten das kindliche Tun zulassen, auch wenn das Buch vielleicht Schaden nimmt.
Können alle Kinder von frühkindlicher Bildung profitieren, oder steht dies nur Familien mit gewissem Einkommen zur Verfügung?
Die Idee hinter FBBE ist nicht zu verwechseln mit Unterricht, also Lehre, Wissensvermittlung und -überprüfung. Es braucht nur geeignete Kleidung, um bei Wind und Wetter mit dem Kind auf den Spielplatz oder in den Wald zu gehen. Dort gibt es genug zu entdecken, zu erleben und auszuprobieren. Kinder suchen ihresgleichen, was nicht immer einfach umzusetzen ist. Waldspielgruppen bieten einen geschützten Rahmen in einer Kindergruppe. Sie sind oft der erste Ort, an dem sich das Kind ohne Familienangehörige aufhalten, entdecken, spielen und so seine Kompetenzen erweitern kann.

Zur Person: Seit der Ausbildung zur Spielgruppenleiterin 1996 begleiten Eva Roth die Themen Spielgruppen und Spielen, die Perspektive Kind und FBBE. Deren Anliegen und Wert für die Fachkräfte und zukünftige Gesellschaft rückt sie mit Ausdauer in den Fokus.