Die Menschen bei SOS-Kinderdorf Schweiz

Seit Januar 2022 arbeitet Anouk Zulauf im Programmteam von SOS-Kinderdorf Schweiz. Im Interview berichtet sie, inwiefern unsere Fokusländer und andere Entwicklungsländer von Migration betroffen sind.

Seit Jahrzehnten nimmt die Anzahl der Menschen auf der Flucht kontinuierlich zu: Welche Ursachen für Migration begegnen dir in der Programmarbeit besonders häufig?
Was meiner Ansicht immer noch viel zu wenig beleuchtet wird, ist die riesige Verantwortung der wohlhabenden Nationen als Hauptverursacher für viele der Krisen in den armutsbetroffenen Ländern, die in grossen Migrationsströmen resultieren. Ein konkretes Beispiel ist das Fischereiabkommen, welches die Fischereirechte in den Gewässern vor Senegal flächendeckend an europäische Staaten abgetreten hat, damit diese trotz leergefischten Meeren vor ihren Küsten wieder frischen Fisch auf dem Teller haben. Dass damit einer Mehrheit der Bevölkerung in rasantem Tempo ihr primäres Einkommen genommen wurde, realisiert bei uns kaum jemand. Hinzu kommen Themen wie Umweltemissionen und äusserst aktuell Kriege im Norden, die wiederum Dürren und Hungersnöte im Süden auslösen. Zudem fördert die politische Zusammenarbeit mit, um es vorsichtig auszudrücken, umstrittenen Staatsoberhäuptern die jahrzehntelange Aufrechterhaltung von menschenrechts- und demokratiefeindlichen Regimen. 

In unserer Programmarbeit, zum Beispiel in Lesotho, sind es vielfach fehlende Einkommensquellen in ländlichen Gegenden, die Anwohner:innen in die Arbeitsmigration ins nahe oder ferne Ausland bewegen. Aktuell, besonders in Äthiopien und Niger, sind es aber auch klimatische Ereignisse wie Dürren und daraus resultierende Hungerkrisen sowie ethnische Konflikte und terroristische Anschläge, welche Menschen in die Migration und Flucht zwingen.
Welche Massnahmen haben sich etabliert, um die Ursachen vor Ort an der Wurzel zu packen?
Im Rahmen unserer Programmarbeit schaffen wir beispielsweise neue Einkommensquellen, wie in Lesotho, wo wir durch Ausbildungsprogramme neue Perspektiven eröffnen. Zentral ist dabei der Aspekt der Nachhaltigkeit: Für welche Berufe besteht eine tatsächliche Nachfrage am Markt? Für unsere Arbeit ist entscheidend, fundierte Bedarfs- und Marktanalysen zu erstellen und darauf basierend massgeschneiderte Aktivitäten zu erarbeiten. Das reicht vom Aufbau, Ausbau und von der Verbesserung frühkindlicher und primärer Bildung als Grundstein über vielversprechende sekundäre Ausbildungs- und Berufsbildungsangebote hin zur praktischen Begleitung bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Dies jeweils in enger Zusammenarbeit mit lokalen Institutionen und Behörden, denn nur so erzielen wir langfristig strukturell Wirkung.
Migration wird oft sehr einseitig betrachtet: als Folge negativer Ursachen. Um auch mal die andere Perspektive einzunehmen, welche positiven Seiten hat Migration?
Zielländer von Migrant:innen profitieren meines Erachtens ungemein, sowohl was Wissenstransfer als auch kulturelle Bereicherung betrifft. Auch die Schweiz ist von Menschen mit Migrationshintergrund massgeblich geprägt, und sie sind ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Was zudem oft vergessen oder verdrängt wird: Der Niedriglohnsektor unseres Arbeitsmarktes wird äusserst stark mit Migrant:innen besetzt. Es gibt einige Niedriglohnsektoren in Branchen, die beinahe ausschliesslich von Menschen mit Migrationshintergrund getragen werden. Die Wichtigkeit dieser Sektoren hat die Pandemie beispielsweise in der öffentlichen und privaten Pflege eindrücklich gezeigt. In die andere Richtung gilt aber auch: Viele ehemals Geflüchtete überweisen regelmässig einen Teil ihres Einkommens an Verwandtschaft in ihren Heimatländern und mindern damit selbst aktiv die Armut vor Ort. Ganz allgemein dürfen wir zwei Dinge nicht vergessen. Erstens, dass die meisten Migrierenden so schnell wie möglich zurück in ihre Heimat wollen. Zweitens müssen wir die aufgebauschten Migrationszahlen im Norden immer in Relation zum Gesamten sehen. 83 Prozent der Vertriebenen sind in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen untergebracht und nicht bei uns im «Norden». Und 72 Prozent der Flüchtenden harren in Nachbarländern ihrer Heimatstaaten aus und kommen somit gar nie bis zu uns.

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