WELTWEIT

ALLES, WAS RECHT IST

Die Gleichheit im Gesetz ist nur der erste Schritt zu echter Gleichberechtigung. Schon die Erfahrungen hierzulande zeigen, dass zwischen Theorie und Praxis oft eine grosse Lücke klafft. SOS-Kinderdorf arbeitet daran, diese zu schliessen.
Mit einem Jahr kam Jyotsana (37) aus Nepal in ein SOS-Kinderdorf. Heute hat sie selbst zwei kleine Mädchen und ist SOS-Kinderdorf-Leiterin.
    1971
    Das Frauenstimmrecht in der Schweiz wird eingeführt.
    Kantonal zog sich dieser Entscheid teils noch zwei Jahrzehnte hin und hinkte damit den meisten europäischen Nachbarn weit hinterher. Sehr unterschiedlich sieht diese Entwicklung auch in unseren Fokusländern aus. Im Niger erlangten Frauen das Wahlrecht 1993, in Äthiopien hingegen schon 1957. Dieses hatte jedoch bestenfalls symbolischen Charakter. Erst 1995 wurde im Zuge einer Reform ein Wahlrecht für Frauen durchgesetzt, das heute unbestritten als Erfolg gilt. Das Parlament setzt sich derzeit zu 38 Prozent aus Frauen zusammen – ein bedeutender Fortschritt zu den knapp 2 Prozent im Jahr 1995. Zudem steht dem Parlament eine Frau vor. In Nicaragua gilt die Frauenrechtsbewegung zu Recht als äusserst stark. Schon 1955 erlangten Frauen das vollwertige Wahlrecht, bereits 1993 wurden hier Kommissionen für Frauen und Kinder lanciert. Auch der zehnte Platz im globalen Gleichstellungsreport des Weltwirtschaftsforums spricht für den Fortschritt. Leider wurden in den letzten Jahren jedoch viele Gesetze, die Gleichberechtigung stützen, von der Regierung unter Daniel Ortega wieder rückgängig gemacht.
    1982
    Das Recht auf gleiche Zugangs­bedingungen zu Bildung für Mädchen und Jungen in der Schweiz wird gesetzlich festgeschrieben.
    Nichts ist für die Verringerung von Ungleichheiten so entscheidend wie Bildung. Während 1982 in der Schweiz diesbezüglich die letzten Schranken fielen, die Mädchen benachteiligten, besteht in vielen Projektländern noch Nachholbedarf. Im Niger treibt SOS-Kinderdorf Schweiz die Gleichberechtigung beim Thema Bildung voran. Noch immer liegt die Einschulungsquote von Jungen zehn Prozentpunkte höher als die von Mädchen. «Langfristig ist es natürlich das Ziel, die Quote für beide Geschlechter auf 100 Prozent zu steigern», äussert sich Urs Bernhard, Verantwortlicher Programme, zur Strategie vor Ort. Vielerorts hängen Armut und ungleiche Chancen untrennbar zusammen. Geraten Familien finanziell in Schwierigkeiten, sind es oft die Mädchen, die zuerst von der Schule genommen werden, um Gebühren zu sparen, im Haushalt zu helfen oder etwas zum Einkommen beizutragen.
    1988
    Das neue Eherecht räumt Mann und Frau die gleichen Rechte und Pflichten ein.
    Finanzen sind Männersache, der Haushalt obliegt der Frau? Seit 1988 ist diese Trennung hierzulande zumindest gesetzlich aufgehoben. Mit der neuen Regelung durften Frauen endlich auch ohne Einverständnis ihres Gatten einen Beruf ausüben. In diesem Zug wurde auch die gemeinsame Verantwortung für den Familienunterhalt und Haushalt festgelegt. Während heute in den meisten Ländern Frauen offiziell eigenständig jeden Beruf ausüben können, ist der gelebte Alltag davon weit entfernt. In traditionellen Führungsgremien haben Frauen im Niger beispielsweise kein Mitspracherecht. Auch sind sie deutlich seltener in Professionen repräsentiert, die körperliche Kraft erfordern; ein Umstand, der allerdings weltweit immer noch eher die Regel als die Ausnahme ist. Viel entscheidender ist allerdings, dass in der Familienorganisation oft die klassische Rollenverteilung eintritt. Der Mann nimmt die Rolle des Familienoberhaupts ein, ist allein verantwortlich für die Finanzen, und die Frau übernimmt Erziehung und Haushalt. Ähnlich gestaltet sich die alltägliche Rollenverteilung in Nicaragua und Äthiopien. Einzelne Vorbilder sorgen jedoch bereits für Aufsehen und machen Mut für die Zukunft. So wird die Behörde für äthiopische Industrieparks beispielsweise von einer 29-jährigen Ingenieurin geleitet.

    Im Niger leiden Frauen besonders im Fall einer Scheidung noch unter ungleicher Behandlung. Wird diese offiziell vollzogen, erhält der Vater automatisch das Sorgerecht und die Frau muss das Haus verlassen. In Lesotho tragen Männer die Hauptverantwortung bei finanziellen Angelegenheiten, Frauen haben noch sehr wenig Mitspracherecht. In beiden Ländern steuert SOS-Kinderdorf dagegen. Sozialkassen im Niger und eine gleichwertige Ausbildung für Männer und Frauen sowie einkommensfördernde Massnahmen in Lesotho verleihen Frauen nicht nur finanzielle Unabhängigkeit und Kompetenz. Indirekt werden diese Werte den Kindern vorgelebt und so weitergegeben. Einen entscheidenden Rückschritt in diesem Bereich erlebten Frauen und indirekt Kinder 2016 in Nicaragua. Richter des Obersten Gerichtshofs wurden angewiesen, Männer, die wegen Nichtzahlung des Unterhalts angeklagt sind, nicht mehr verhaften zu lassen. Ein Freibrief mit desaströsen Folgen in einem Land wie Nicaragua, in dem fast die Hälfte der Mütter alleinerziehend ist.